Auf dem Altar der Arbeit

Plakat zum Workers' Memorial Day 2010.

In
diesem Jahr wird erstmals auch in Deutschland der Workers’ Memorial
Day (WMD) begangen, mit dem die internationale Gewerkschaftsbewegung
am 28. April all derer KollegInnen gedenkt, die am Arbeitsplatz oder
infolge der Arbeit ums Leben kamen, Verletzungen erlitten oder
erkrankten. Ihre Zahl geht, nach Schätzungen der UNO-Organisation
ILO, weltweit und jährlich in den dreistelligen Millionenbereich.
Entsprechende Ausmaße erreicht der bundesdeutsche WMD im ersten
Anlauf wohl kaum, angekündigt aber sind immerhin Veranstaltungen und
Aktionen u.a. in Berlin, München, Nürnberg und Köln (aktuelle
Infos auf www.fau.org).

Die
geringe Aufmerksamkeit hängt sicher auch mit der spezifischen
Situation hierzulande zusammen. Denn die Mehrzahl der Schädigungen
ereignet sich nicht schlagartig, sondern schleichend. Wir reden also
nicht nur von Arbeitsunfällen, sondern auch Berufskrankheiten.
Außerdem umfassen Fragen der Sicherheit den präventiven
Arbeitsschutz, der zu oft als Experten-Domäne angesehen wird.

Churchill’s
Statistik

Statistiken
vermitteln eine Objektivität, die so nicht besteht. Das ist bekannt.
Der Winston Churchill nachgesagte Ausspruch – „Traue keiner
Statistik, die du nicht selber gefälscht hast“ – ist inzwischen
ein geflügeltes Wort. Das tut ihrer Wirkung jedoch keinen Abbruch.

So
vermeldet die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) im April
eine stark gesunkene Zahl von Arbeits- und Wegeunfällen, d.h. der
meldepflichtigen, die mehr als drei Tage Krankschreibung oder den Tod
zur Folge haben. Demnach hätte es im Krisenjahr 2009 erstmals
weniger als 1 Mio. Arbeitsunfälle gegeben, davon „nur“ 468
tödliche. Auch die Zahl der Wegeunfälle habe auf gut 178.000,
darunter 362 tödliche, abgenommen. Demnach hätte sich der Tribut an
Lebendopfern, den die Arbeit tagtäglich in der Bundesrepublik
fordert, binnen drei Jahren fast halbiert: Von vier auf 2,3. Wenn das
keine Erfolgsmeldung ist!

Die
DGUV-Zahlen für 2008 sind jedoch nicht deckungsgleich mit denen der
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA). Die
veröffentlichte im Januar ihren Bericht über „Sicherheit und
Gesundheit bei der Arbeit 2008“ (SUGA) und verzeichnet darin 765
Arbeits- und 478 Wegeunfälle mit Todesfolge, während die
Unfallversicherung nur von 572 bzw. 458 Toten wissen will. Einerlei,
jeder Unfall ist ein Unfall zu viel. Und in den kommenden Jahren ist
wieder vermehrt mit verletzten oder getöteten ArbeiterInnen zu
rechnen, denn, so DGUV-Geschäftsführer Breuer, „Hauptursache für
die starke Abnahme der Arbeitsunfälle ist wahrscheinlich die
Kurzarbeit“.

Bisher
hatte sich die Berichterstattung der DA[1]

auf die konkret greifbaren Fälle beschränkt, als wir meldeten: Vier
Tote täglich, durch Arbeits- und Wegeunfälle. Das verstellte jedoch
den Blick auf die Langzeitfolgen, auf die geschädigten
ArbeiterInnen, die an Berufskrankheiten leiden. Laut SUGA erlagen
allein 2008 mehr als 2.430 ehem. Beschäftigte dem mangelhaften
Schutz vorvergangener Jahre. Damit steigt die Zahl der vorzeitig aus
unserer Mitte gerissenen KollegInnen im Jahr 2008 auf zehn – jeden
Tag!

Über
Lücken, Mängel und Abhilfe

Zu den
gefährlichsten Branchen zählt seit alters her der Bau. Die Branche
beschäftigte im vergangenen Jahr 5,5% der Erwerbstätigen, so das
Statistische Bundesamt; war aber für 31% der getöteten Arbeiter
verantwortlich. Auf Baustellen in Deutschland ist die
Unfallhäufigkeit mehr als doppelt so hoch wie in der gesamten
gewerblichen Wirtschaft. Dabei ist zu beachten, dass als
„selbstständig“ geführte ArbeiterInnen in diesen
Unfallstatistiken nicht auftauchen. Eine Lücke der Datenauswertung
besteht ebenfalls in der Überwachung von technischen Anlagen, von
denen potenziell Gefahren für Mensch und Umwelt ausgehen. So blieb
es dem TÜV Thüringen vorbehalten, im Februar erstmals einen
„Sicherheitsreport“ für das Bundesland vorzulegen. Das Ergebnis:
Jede fünfte überwachungsbedürftige Anlage wies Mängel auf; bei
fast fünf Prozent der Anlagen wurden „erhebliche und gefährliche
Mängel“ festgestellt. Die Beschäftigten dieser Betriebe arbeiten
an Zeitbomben!

Allgemein
lässt sich für alle Arbeitsbereiche nur eines feststellen:
Gefährdungen haben viele Ursachen. Risiken ergeben sich durch die
Gestaltung des Arbeitsplatzes, durch physikalische, chemische und
biologische Einwirkungen, durch die Gestaltung, Auswahl und den
Einsatz von Arbeitsmitteln, insbesondere von Werkstoffen und Anlagen,
schließlich durch die Arbeits- und Fertigungsverfahren, durch
Arbeitsabläufe und Arbeitszeit und deren Zusammenwirken, und auch
durch unzureichende Qualifikation der Beschäftigten. Aber auch der
vulgäre kapitalistische Sparzwang spielt eine bedeutende Rolle: In
nahezu 50% der tödlichen Arbeitsunfälle in der Industrie sind, nach
BAUA-Angaben, Fragen der Organisation (unzureichende
Sicherheitsvorkehrungen, Fehlen geeigneter Arbeitsmittel)
mitursächlich.

Hier
gilt: Niemand kann gezwungen werden, die eigene Gesundheit für den
Job aufs Spiel zu setzen, wenn die Risiken vermieden werden können.
Wenn die Anlagen oder Werkzeuge derart mangelhaft sind, dass sie eine
akute Gefahr darstellen, dann ist die Arbeitsverweigerung unser gutes
Recht, genauer: unser „Zurückbehaltungsrecht“. Wichtig ist es,
die Missstände konkret und genau zu benennen.

Die
unsichtbare Gefahr

Eine
der häufigsten Krankheitsursachen ist neben schwerer körperlicher
Arbeit unzureichender Lärmschutz. So sind allein in Deutschland sind
ca. fünf Mio. ArbeitnehmerInnen gefährlichem Lärm ausgesetzt.
Schwerhörigkeit rangiert unter den Berufskrankheiten an erster
Stelle, weit vor Asbest-bedingten Erkrankungen. Durch Lärm entsteht
auch ein erhöhtes Unfallrisiko, etwa infolge des Überhörens von
Signalen und Warnrufen oder durch Fehlverhalten im Zuge von Ermüdung.
Auch im Büro kann Lärm die Gesundheit gefährden, weil er zu Stress
führt. Häufigste Stressfaktoren sind indes Zeit- und
Leistungsdruck, zu viel Arbeit, Doppelbelastung durch Beruf und
Haushalt oder Zweitjob, sowie die Angst vor Arbeitslosigkeit. Stress
führt in hoher oder langfristiger Konzentration zur Schwächung des
Immunsystems mit erhöhter Anfälligkeit für Infektionskrankheiten
oder erhöhtem Herzinfarkt-Risiko.

Und
auch psychische Belastungen nehmen durch Rationalisierung und
Flexibilisierung der Arbeitswelt zu – vermeidbares Leid,
wohlgemerkt! Nach Krankenkassen-Angaben wurden im Jahr 2008 10,6% der
Arbeitsausfalltage durch seelische Erkrankungen verursacht, und zwar
insbesondere im Gesundheitswesen und im Öffentlichen Dienst. Damit
stehen diese Erkrankungen an vierter Stelle nach Erkrankungen des
Muskel-Skelett-Systems, der Atemwege und Verletzungen.[2]
Seelische Erkrankungen treten, so eine Studie der
Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), v.a. in Dienstleistungsbranchen
auf. Unter besonderem Druck stünden etwa Callcenter-Beschäftigte.
Um Abhilfe zu schaffen, so BPtK-Präsident Richter, müssen
„Arbeitsstakkato und Überforderung vermieden werden. Ziel ist es
außerdem, dass der Einzelne mehr Kontrolle über seine
Arbeitsabläufe zurückgewinnt.“

André
Eisenstein & Gregor May

 

[1]
Alle Artikel online: DA Nr. 186, 194 und 198.

[2]
BAUA: Info-Dienst „Sozialer Arbeitsschutz“, 1/2010.

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