Abkehr von der Gewaltfaszination

Derartiges
suchte man bisher vergeblich: Zeitgemäße Grundlagentexte, die es
LeserInnen ermöglichen, einen direkten Zugang zur Ideenwelt und
Praxis des gewaltfreien Anarchismus zu finden. Dieser entwickelte in
den frühen 1970er Jahren in Deutschland nicht nur enorme
Anziehungskraft, sondern fand seine organisatorische Entsprechung
ebenso in einer Vielzahl von Zusammenschlüssen, den Gewaltfreien
Aktionsgruppen, wie in der Herausgabe einer Zeitung, der
„Graswurzelrevolution“ (GWR). Mit „Ein weltweiter Aufbruch!“
wurde diese Lücke nun vom gleichnamigen Verlag geschlossen.

Einflüsse
und Aktionsfelder

Zentrale
Ausgangspunkte des gewaltfreien Anarchismus bildeten der
Antimilitarismus und der Feminismus sowie die Anti-Atom-Bewegung.
Auch der klassische Anarchosyndikalismus, vor allem in seiner
antimilitaristischen Tradition, hatte maßgeblichen Einfluss.
Ökologie, Antirassismus, die Bezugnahme auf soziale Bewegungen im
Trikont, Formen alternativen Lebens, libertäre Pädagogik, der Kampf
gegen moderne Biotechnologien, staatliche Überwachungstechniken und
Repression sind nur als weitere Beispiele zu nennen.

Gesamtgesellschaftlich

Was
sich sonst erst aus der Lektüre einer Vielzahl historischer und
zeitgenössischer Veröffentlichungen, in erster Linie aber aus der
gewaltfrei-libertären Monatszeitung „Graswurzelrevolution“
erschließt, hat Johann Bauer im Interview sowie der Auswahl an
Grundlagentexten zu bündeln vermocht. Der sozial-anarchistische,
gesamtgesellschaftliche Ansatz tritt darin ebenso klar zutage wie die
begründete Annahme von der Notwendigkeit der Übereinstimmung von
Ziel und Mitteln.

Die
Waffen nieder!

Neben
einem Interview mit Johann Bauer, das 2007 in der GWR erschien und
eigens für den Neuabdruck überarbeitet wurde, sind hier zwei frühe
Texte der Bewegung versammelt, die in ihren Grundzügen nichts an
Aktualität verloren haben. Im Gegenteil: „Was heißt
Graswurzelrevolution?“ von 1974 wird getragen von der allgemeinen
Aufbruchsstimmung, lebt, hat auch heute nichts von seiner geradezu
mitreißend wirkenden Ausstrahlungskraft verloren. „Feldzüge für
ein sauberes Deutschland“, die politischen Erklärungen
Gewaltfreier Aktionsgruppen in der BRD zu Terrorismus und Repression
am Beispiel der „Mescalero“-Affäre 1977, beschäftigt sich
dagegen mit jeglichen Formen von Gewalt – und erteilt ihnen eine
klare Absage.

Einlassen
und begreifen

 

Das
Vorurteil, das den Antimilitarismus gewaltfreier AnarchistInnen mit
bürgerlichem Pazifismus verwechselt, wird dabei genauso ausgeräumt
wie die Fehlannahme [vom Autor als solche betitelt, Anm. d.
Redaktion]
, gewaltsame Umstürze hätten etwas mit sozialer
Revolution zu tun. Revolution geht durch die Köpfe, nicht durch die
Mündung von Gewehren. Sie rückt dort sogar in weite Ferne. Warum
sich derartige Revolutionsvorstellungen trotzdem so hartnäckig
halten, wird ebenso dargelegt wie etwaige Rahmenumstände, die zu
derartigen Fehlannahmen verleiten. Die Argumente des gewaltfreien
Anarchismus sind alles andere als naiv, sondern wohlüberlegt und
radikal zu Ende gedacht. Vermutlich sind sie sogar radikaler als
andere Vorstellungen.

Nussknacker

Wie
sich Formen von Herrschaft selbst in antiautoritär-emanzipatorischen
Gruppen ausprägen können, wird anhand von Bauers Beschreibungen von
Diskussions- und Entscheidungsstrukturen deutlich. Das gleiche gilt
für die Entschlüsselung so mancher Richtungsdebatte: Schon bei den
historischen sozialen Bewegungen sei zu beobachten, wie AktivistInnen
versuchten, von der Politik zu leben. Debatten darüber, dass Gruppen
zu heterogen seien, würden deshalb bis heute gerade auch von Leuten
angefangen, „die sich ohnehin verabschieden wollen und nur noch an
den Gründen basteln.“ Bleibt man allein als Einpunktbewegung
stehen, „wird man schnell zu einer Gruppierung, die sich an andere
Verbände, Parteien usw. bloß anlehnen kann.“

Entmystifizierend

Die
Positionen des gewaltfreien Anarchismus sind „in vielen Fragen so
eindeutig wie überhaupt möglich; sie liegen nur oft quer zu den
Vorurteilen und bequemen Annahmen anderer, wenn nicht sogar ein
aktiver Wille zum Missverstehen vorherrscht, wie es in der
‚Gewaltfrage‘ häufig der Fall ist.“ (Bauer) Die Graswurzelbewegung
beantwortet die revolutionäre Frage eindeutig auf
anarchosyndikalistische Weise, denn „nur der industrielle
Antimilitarismus und direkte gewaltfreie Aktionen können verhindern,
dass die Revolution im Blut erstickt.“ Für den Ablösungsprozess
von der Gewaltfaszination hat dieses Buch auf jeden Fall das
Potential, so manche harte Nuss im Kopf zu knacken.

Anarr

DA199_Kultur_Aufbruch.jpgBuchdaten:

Johann
Bauer
Ein
weltweiter Aufbruch!
Gespräch
über den gewaltfreien Anarchismus der Siebzigerjahre. Mit
Grundsatztexten u.a. zur Kritik der RAF und zur Göttinger
„Mescalero“-Affäre.
Verlag
Graswurzelrevolution, Nettersheim 2009
Pb,
120 Seiten
ISBN
978-3-939045-12-0
12 Euro

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