Editorial

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Zeit – das ist ein unglaublich
spannendes und meist völlig unterschätztes Thema. Die Rede ist
nicht von Zeit als physikalischer Größe, sondern von ihrer
kulturellen Bedeutung. Wenn jetzt wieder die Temperaturen steigen und
die Tage länger werden, freuen wir uns darüber natürlich. Aber
letztlich hat sich die industrialisierte Gesellschaft schon längst
von den Jahreszeiten unabhängig gemacht. Künstliches Tageslicht und
die feste Einteilung des Tages in Stunden und Minuten machen es
möglich, einen immergleichen Tagesrhythmus einzuhalten. Ob die Sonne
dabei früher oder später auf- und wieder untergeht – das spielt
keine Rolle. Aber was habe ich dann von der schönen Sonne, wenn ich
mich nur in geschlossenen Räumen aufhalte? Und was nützt es mir,
wenn mein Körper im Winter einem seit Urzeiten bestehenden Zyklus
folgend mehr Schlafbedürfnis entwickelt, ich aber morgens zur
gleichen Zeit zur Arbeit muss? Wir kämpfen dauernd gegen unseren
natürlichen Rhythmus und haben meist noch nicht einmal mehr eine
Ahnung davon, dass das nicht immer so war. Den Arbeiterinnen und
Arbeitern musste die heutige Vorstellung von Zeit erst mühsam
aufgezwungen werden. So soll es zu Anfang häufig vorgekommen sein,
dass die Leute einfach nach Hause gegangen sind, wenn sie das Gefühl
hatten, für den Tag genug gearbeitet – ihr „Tagewerk vollbracht“
– zu haben. Aus heutiger Sicht eine skurrile Vorstellung. Nun ja,
genießt den Frühling trotzdem so gut ihr könnt! Ihr könnt den
Hintergrund-Artikel dabei ja mal als Anlass nehmen, ein wenig über
die Rolle des modernen Zeitbegriffs zu sinnieren. Und wenn ihr in der
Zeitlupe vom Kampf für den Achtstundentag 1919 in Spanien lest,
versucht mal euch vorzustellen, wie es gewesen wäre, hätte kein
Mensch gewusst, was eine „Stunde“ eigentlich sein soll.

Wenn euch das zu abgehoben erscheint,
hat die aktuelle Ausgabe auch greifbarere Themen zu bieten. Das
Streikrecht in Deutschland zum Beispiel ist zwar von juristischen
Begriffen geprägt, die sich dem gesunden Menschenverstand nicht
gerade anbiedern, die Auswirkungen können aber ziemlich konkret
spürbar werden, wenn’s darauf ankommt. Oder: Der Tod durch Arbeit
wird viel zu wenig thematisiert. Es liegt an uns, daran zumindest in
diesem Lande etwas zu ändern. Migration hat ebenso ihre hässlichen
Seiten. In dieser Ausgabe berichten wir über mehrere Kämpfe von
Migranten und Migrantinnen für eine Verbesserung ihrer
Lebensbedingungen.

Das alles und noch einiges mehr findet
ihr in dieser Ausgabe. Wir haben uns diesmal etwas früher ins Zeug
gelegt, damit ihr die Direkte Aktion schon am Workers’
Memorial Day, auf einer traditionellen oder einer revolutionären 1.
Mai-Kundgebung oder bei einer Euromayday-Parade in den Händen halten
könnt. Dann kommt ganz bestimmt keine Langeweile auf.

Viel Spaß beim Lesen wünscht euch

Holger (DA-Layout)

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