Die Realisierung der Freiheit steht obenan auf der Tagesordnung

Michail Bakunin gilt als einer der
großen Denker des Anarchismus. Seine philosophische Glaubwürdigkeit
geht nicht zuletzt auch auf den „Barrikadenkämpfer” Bakunin
zurück. Unermüdlich sah er in jedem noch so kleinen Aufstand den
Ausbruch einer großen sozialen Revolte, die mit der Zeit des
Despotismus und der Unterjochung der Völker durch den Adel und das
Großkapital abrechnen solle. In dem nachfolgenden Artikel wird auf
die philosophische Grundlage, die hauptsächlich die Denker Fichte
und Hegel bildeten, und letztendlich auch der Ausgang für eine
Philosophie der Tat waren, eingegangen. Die sozialen
Unzulänglichkeiten des Kapitalismus, die stetige Inszenierung
brutaler Kriege sowie auch das Scheitern des autoritären Sozialismus
verdeutlichen die Dringlichkeit einer neuen Aufarbeitung der
Bakunin‘schen Theorie.

Michail Bakunin quittierte mit 19
Jahren seinen Dienst bei der russischen Armee und wechselte an die
Universität Moskau. Hier lernte er den Dichter Nikolay Stankjewitsch
kennen, von dem er seinen ersten bedeutsamen intellektuellen Einfluss
erfuhr.(1) Stanjewitsch war der erste russische Romantiker; sein
Verdienst bestand darin, dass er das russische Denken mit der
deutschen idealistischen Philosophie vertraut machte.

Fichte

Durch die Beschäftigung mit der
deutschen idealistischen Philosophie wurde Bakunin auch mit den
Werken Fichtes vertraut. Fichte gilt als einer der wichtigsten
Vertreter des deutschen Idealismus. Seine als „Wissenschaftslehre“
bezeichnete Philosophie soll als „pragmatische Geschichte des
menschlichen Geistes“, das „allgemeine und absolute Wissen“ in
seiner Entstehung aufzeigen, im Mittelpunkt steht dabei der Gedanke
von der zentralen Bedeutung des Ichs, das schöpferisch sich selbst
und der Vervollkommnung durch Pflichterfüllung fähig ist.(2)
Besonders Fichtes „Anweisungen zum seligen Leben“, wo eine quasi
objektlose Religion gepredigt wurde, nahm Bakunin mit großem
Enthusiasmus auf.(3) Indem der Nächste nicht ein einziges Mal
überhaupt benannt ist, sind alle Grenzen des spekulierenden Ich
verschwunden, kann es als „Gesetz der höheren Sittlichkeit“
gelten, „die Menschheit in der Wirklichkeit zu dem zu machen, was
sie ihrer Bestimmung nach ist, zum getroffenen Abbilde, Abdrucke und
zur Offenbarung des inneren göttlichen Wesens.“(4)

Diese Ansicht prägte Bakunin bei der
Beschäftigung mit der Philosophie von Fichte.

Um ihn bekannt zu machen, übersetzte
er im Jahre 1835 „Die Bestimmung des Gelehrten“. Für Bakunin war
Gott nun entdeckt und beliebig erfüllbar als der „Sinn des Lebens,
der Gegenstand echter Liebe, nicht der, den man durch Erniedrigung
des eigenen Ich zu gewinnen habe, nicht der, der außerhalb der Welt
richtet, sondern der, der in der Menschheit lebt, der sich in dem
erhöhtem Menschen selbst erhöht, der durch Jesus lebendige Worte
des Evangeliums sprach, der in den Dichtern redet.“(5)

Im Jahre 1838 übersetzte Bakunin
Fichtes „Anweisungen zum seligen Leben“. Dieses Werk war ein
Versuch, ein idealistisches System von Ethik zu schaffen.

Es wurde Bakunins ständiger Begleiter
dieser Zeit; Zitate und Umschreibungen aus dem Werk füllten die
meisten Briefe Bakunins.(6) In dieser Zeit der größten Nähe zu
Fichte identifizierte sich das Sendungsbewusstsein Bakunins mit dem
künftigen Gottmenschen als dem Ziel und der Möglichkeit des
Menschseins, dem neuen Christus.(7)

Das Pathos Fichtes schwingt im Stile
Bakunins noch in den Alterschriften nach, der Einfluss seiner
Freiheitsidee hat sich im Werke Bakunins nie mehr ganz verloren.(8)

Hegel

Bakunin erhielt Anfang 1837 von
Stankjewitsch den Anstoß, sich mit der Hegelschen Philosophie
auseinanderzusetzen.(9) Hegel entwickelte ein philosophisches System,
in dem er die tradierte aristotelische Metaphysik, die modernen
naturwissenschaftlichen Methoden, das moderne Naturrecht (Locke,
Hobbes) und die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (Stewart, A.
Smith, Ricardo) zum Ausgleich zu bringen versuchte. Im Mittelpunkt
steht das Absolute und zwar als absolute Idee, als Natur und als
Geist, dargestellt in „Wissenschaft der Logik“ (1812-1816).

Die Aneignung Hegels vollzog sich
gleich der Aufnahme einer neuen Offenbarung. Bei Hegel entdeckte
Bakunin den Begriff der „Wirklichkeit“ und damit die Versöhnung
mit dem Konkreten: „ noch habe er in sich Leeres, Scheinhaftes,
doch ich ließ mich um meines Glückes willen von Hegel
verschlingen.“(10) Bakunin versuchte, den Begriff der Wirklichkeit
genauer zu interpretieren; er wollte weg von der „Scheinwirklichkeit
im Felde des Verstandes“, was indessen „nicht durch Raisonnement,
nur mit Offenbarung“ möglich schien. Dies sollte zur „wahren
Wirklichkeit der Vernunft erheben, von der endlichen Form
freimachen.“ (11)

Bakunin veröffentlichte im Jahre 1838
in der Zeitschrift „Moskauer Beobachter“ seine Übersetzung von
Hegels Gymnasialreden, den ersten authentischen Hegeltext in
russischer Sprache. Im Jahre 1839 verdichtete sich Bakunins Hegelbild
allmählich. Vor allem vertieften sich die historischen Dimensionen
nach der Lektüre historischer und theologischer Bücher aus der
Hegelschule.(12)

Die Vertiefung in das Gedankengebäude
Hegels erreichte schließlich einen Grad, dass Bakunin sich nach dem
Weggang Stankjewitschs ins Ausland als besten Hegelkenner in Moskau
und damit im Russland der damaligen Zeit präsentieren konnte.

Bakunin fasste seine philosophische
Programmatik in dem Aufsatz „Über die Philosophie“ zusammen, in
dem er ausführt, dass erst die Logik Hegels die allgemeinen Gesetze
aus der Idee heraus kontinuierlich entwickelt habe und ihnen endlich
objektiven Wert gegeben habe.

Im Sommer 1840 wechselte Bakunin zur
Vertiefung seiner Hegelstudien an die Universität Berlin. Vorerst
blieb Bakunin noch im Bereich der konservativen Hegelschule, bevor er
im Herbst die Bekanntschaft mit dem revolutionären Linkshegelianer
Arnold Ruge machte. Sie eröffnete dem Russen neue philosophische
Horizonte, er wurde hineingeworfen in die Krisenproblematik des einst
allmächtigen Hegelschen Systems und mit der völlig veränderten
Situation und ihren gewandelten Fragestellungen konfrontiert.

Arnold Ruge veröffentlichte im Oktober
1842 in seinen Deutschen Jahrbüchern die erste größere Arbeit
Bakunins unter dem Pseudonym Jules Élysard mit dem Titel „Die
Reaktion in Deutschland. Fragment von einem Franzosen“. Die Schrift
fing mit dem Leitmotiv seines Lebens an: „Freiheit, Realisierung
der Freiheit – wer kann es leugnen, daß dies Wort obenan steht auf
der Tagesordnung der Geschichte.“ (13)

In der Schrift wandte er sich gegen
jeden Versuch, die Gegensätze des Hegelschen Systems zu versöhnen,
weil lediglich aus ihrem Zusammenprall die völlige Wahrheit
hervorgehen konnte und er sagte den Ausbruch bevorstehender
Revolutionen voraus: „Laßt uns also dem ewigen Geiste vertrauen,
der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche
und ewig schaffende Quell alles Lebens ist. – Die Lust der
Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust.“(14)

Bakunin analysierte die
gesellschaftspolitische Konstellation seiner Zeit mit Hegelschen
Begriffsschemata. In der These, dass die moderne Bildung, d.h was
Inhalt und Form des Geistes jetzt ausmacht, einen
Selbstauflösungsprozess unterliege, formulierte Bakunin das
Selbstverständnis der Nachhegelianer klarer und unverzerrter als es
bis dahin geschehen war. Das Ziel dieses Prozesses wäre, wie Bakunin
meinte, „die Selbstauflösung in eine ursprüngliche und neue
praktische Welt – in die wirkliche Gegenwart der Freiheit.“(15)
Bakunins Pamphlet „Die Reaktion in Deutschland“ wurde zu einer
Programmschrift der „Philosophie der Tat“, die den Übergang von
der Theorie zur Praxis und zur politischgesellschaftlichen Tat
erzwingen wollte.(16)

Michael Lausberg

Literatur:

Beer, R. (Hrsg.): Philosophie der
Tat
, Köln 1968

Carr, E.H: Michael
Bakunin
, London 1975

Lausberg, M.: Bakunins Philosophie
des kollektiven Anarchismus
, Münster 2008

Medicus, F. (Hrsg.): J. G. Fichte.
Werke, Bd. 5

Rholfs, E./Nettlau, M.: Bakunin,
Gesammelte Werke
, 2.Bände, Berlin 1921-1924

Scheibert, P.: Von Bakunin zu Lenin,
Leiden 1956

Schneider.L. /Bachem, P. (Hrsg.):
Michael Bakunin. Philosophie der Tat, Köln 1968

Schulte, G.: Die Wissenschaftslehre
des späten Fichte
, Frankfurt/Main 1971

Wittkop, J.F.: Bakunin, Reinbek
bei Hamburg 1994

 

Anmerkungen

[1] Wittkop, J.F.: Bakunin,
Reinbek bei Hamburg 1994, S. 13

[2] Schulte, G.: Die
Wissenschaftslehre des späten Fichte, Frankfurt/Main 1971, S. 52

[3] Scheibert, P.: Von Bakunin
zu Lenin, Leiden 1956, S. 139

[4] Medicus, F. (Hrsg.): J. G.
Fichte. Werke, Bd. 5, S. 79

[5] Rholfs, E./Nettlau, M.:
Bakunin, Gesammelte Werke, Bd.1, 2.Bände, Berlin 1921-1924., S. 465

[6] Carr,
E.H: Michael Bakunin, London 1975, S. 31

[7] Scheibert P.: Von Bakunin zu
Lenin, Leiden 1956, S. 142

[8] Schneider, L./Bachem, P.
(Hrsg.): Michael Bakunin. Philosophie der Tat, Köln 1968, S. 14

[9] Scheibert, Von Bakunin zu
Lenin, a.a.O., S. 143

[10] Brief an die Schwestern,
Anfang Mai 1837, zitiert nach Scheibert, Von Bakunin zu Lenin,
a.a.O., S. 144

[11] Brief an die Schwestern,
März 1838, zitiert nach Scheibert, Von Bakunin zu Lenin, a.a.O., S.
145

[12] Scheibert, Von Bakunin zu
Lenin, a.a.O., S. 147

[13] Beer, R. (Hrsg.):
Philosophie der Tat, Köln 1968, S. 19

[14] A.a.O., S. 37

[15] A.a.O., S. 25

[16] Schneider/Bachem, Bakunin,
a.a.O., S. 22

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar