Forum der Ausgebeuteten

Auf Chefduzen kann man sich anonym
über Arbeitsbedingungen und Ämter aussprechen. Nicht selten
reagieren die Chefs auf Veröffentlichungen mit Abmahnungen – oder
auch mit Zugeständnissen. Das Internet kann so zum wirkungsvollen
Instrument im Klassenkampf werden. Die FAU Münsterland fragte dessen
Initiator nach Geschichte und Perspektiven des bemerkenswerten
Projektes.

Was ist und macht Chefduzen
und wie ist das Projekt entstanden?

Chefduzen ist entstanden aus Frust über
die Perspektivlosigkeit der linken Szene. Es ist ein Versuch eine
zeitgemäße Form des Klassenkampfes zu entwickeln. Wir haben die
soziale Frage in den Mittelpunkt gestellt und im Internet einen Raum
für Diskussion und Auseindersetzung geschaffen. Die Betroffenen von
Ausbeutung und Verarmung müssen selbst Lösungen der sozialen und
politischen Probleme entwickeln. Das können ihnen ein paar
politische Vorturner nicht abnehmen. Wir versuchen Dogmatismus und
Sektiererei zu vermeiden, dafür zu sorgen, dass eine
strömungsübergreifende Diskussion möglich ist, nur bei
faschistoider oder neoliberaler Propaganda schreiten wir sofort ein,
ansonsten lassen wir mehr zu, als anderswo in der Linken denkbar
wäre.

Was sind die größten
Erfolge von Chefduzen? Und gibt es auch Stress mit Behörden oder
Arbeitgebern?

Dies beides gehört zusammen: Der
Stress mit Behörden und Arbeitgebern bescherte uns auch unsere
größten Erfolge. Wir haben weitgehend Neuland betreten und alle
Seiten versuchten, die juristischen Möglichkeiten auszuloten. Einige
Unternehmen betrachteten ja schon die Veröffentlichung ihrer
Arbeitsbedingungen als Affront und es hagelte nach kurzer Zeit
Schreiben von Anwälten, Polizei und Gerichten. Wir sind keine
geborenen Helden, aber wir wollten auch nicht klein beigeben, so
kurze Zeit nach dem Start. Wir hatten schlaflose Nächte und
ernsthafte Existenzängste. Dies gipfelte in der Androhung eines
Zwangsgeldes in der absurden Höhe von bis zu 250.000 Euro oder sechs
Monaten Haft. Wir kamen mit einem Lehrgeld von rund 3.000 Euro davon.
Dank einer Welle der Solidarität und Unterstützung durch die Rote
Hilfe blieb auch das letztendlich nicht auf unseren Schultern. Dieser
Angriff auf Chefduzen machte zunächst die Runde in der Netzwelt, bis
sich schließlich auch die Mainstreammedien der Sache annahmen. Die
Bekanntheit und Popularität des Forums der Ausgebeuteten wuchs
explosionsartig. Die erste Firma, die uns ans Bein pisste, ist
inzwischen pleite. Die Callcenterbetreiber freenet, buw und Tectum –
und verschiedene andere – bissen sich an dem Forum die Zähne aus
und schossen sich selbst ins Knie. Sie sägten so an ihrem Ruf: Durch
ihr lichtscheues Verhalten machten sie die Öffentlichkeit neugierig,
bis auch die bürgerliche Presse Interesse zeigte. Allein das Thema
„freenet“ wurde bei Chefduzen 250.000 mal besucht.

Uns ist es wichtig, dass wir uns nicht
allein auf die Ausbeuter konzentrieren. Uns bedeutet es auch viel,
dass man sich die Informationsfreiheit in den Medien und speziell im
Internet nicht weiter beschneiden lässt. Wir verachten den
verauseilenden Gehorsam, den viele Betreiber von Netzprojekten an den
Tag legen. Wir haben im Juristischen viel dazugelernt und wissen,
dass es sich bei einem großen Teil der Drohungen um Bluff handelt.
Wir haben uns mit ähnlich ausgerichteten Internetportalen und
erfahrenen Juristen zusammengetan, um unter dem Dach der Roten Hilfe
gegen die Ausbreitung von Zensur und Beschneidung der
Meinungsfreiheit politisch und juristisch v o r zugehen. Wir
verbuchen es als einen Erfolg, dass viele Unternehmen zwar Schiss vor
der Öffentlichkeit haben, aber noch größeren Schiss davor, das
öffentliche Interesse durch einen Angriff auf uns zu vergrößern.
Es war auch die Folge der so entstandenen öffentlichen Diskussion,
dass ein Ausbeuter nicht mehr ausreichend Personal rekrutieren konnte
und gezwungen war, den Lohn zu erhöhen. Das Forum wurde auch von
Aktivisten genutzt, einen Betriebsrat in einem Callcenter zu
installieren. Solche Aktivitäten sind in einigen Betrieben so schwer
wie unter einem diktatorischem Regime. Die anomymen
Diskussionsmöglichkeiten in einem solchen Forum haben sich als
hilfreich bewiesen.

Was macht ihr momentan?

Neben dem Alltag mit dem Forenbetrieb
und der Beteiligung an der Diskussion, sind wir bemüht, die
Möglichkeiten und Kontakte, die aus der Arbeit an dem Netzprojekt
entstanden sind, für praktische Aktivitäten zu nutzen. Das Internet
bietet einfach zusätzliche Möglickeiten, doch es ersetzt nicht
traditionelle Formen der politischen Auseinandersetzung mittels
Flugblättern, Plakaten, Treffen und Versammlungen. Wir versuchen,
den Schwerpunkt der Arbeit in die reale Welt zu holen, ohne den
virtuellen Treffpunkt aufzugeben. Die Stammtische in mehreren Städten
und die Branchenzeitungen für den Leiharbeitssektor und die
Callcenter sehen wir als einen Schritt in die richtige Richtung.

Welche langfristigen
Perspektiven und Herausforderungen siehst du für euer Projekt?

Wir wollen gegen die Spaltungen und
Atomisierung der Klasse anwirken. Die Erwerbslosen müssen zwar in
jeder Beziehung gestärkt werden, doch sie selbst sind kaum
organisierbar. Arbeitskämpfe der Zukunft müssen auch die Rechte der
Erwerbslosen einfordern. Und wir wollen auch weiter vordringen in den
ersten Arbeitsmarkt und die Stammbelegschaften der Großbetriebe in
die Diskussion einbeziehen. Es kann nicht sein, dass Chefuzen allein
für die Prekarisierten da ist und die Stammbelegschaften der
Industrie mit dem DGB herumklüngeln. Wir werden alle Opfer der
Krise, die über uns hereinbricht, es bleiben keine sicheren Inseln.
Erst wenn wir lernen, solidarisch mit Leuten zu sein, denen es im
Moment noch etwas besser geht, haben wir eine entscheidende Spaltung
überwunden.

Wir danken für das
Interview!

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