„…weil jeder radikale Gestus längst Popcorn ist“

Im Rahmen der Ruhr Triennale habt
Ihr Rolf Dieter Brinkmanns Gedichtband „Westwärts” auf die Bühne
gebracht. Der Dichter wird persönlich meist als verschlossen,
einzelgängerisch und misanthropisch beschrieben, und aus dieser
angeblichen Wesensart heraus ergeben sich die gängigen
Interpretationen seiner Werke als individuelle Abrechnung mit der
Welt. Weitergehend gesellschaftskritisch oder gar politisch wird
seine Arbeit hingegen meist nur vage als „unkonform”
wahrgenommen. Ist auch „Westwärts” nichts weiter als ein
wehmütiger Seufzer eines lebensfernen Poeten – oder steckt für
Dich mehr dahinter?

Ich fühle mich stark verbunden mit
Brinkmann. Seine Texte sind hyperdirekte Reflexe auf das, was wehtut
in der Entfremdung. Damals wie heute. Das hat schon sehr mit Schmerz
und Wut zu tun, aber in diesem Falle schützt seine stark
individuelle Betrachtung auch vor Vermatschung durch Zugehörigkeit.
Ich glaube: Alles Bestreben sollte sein, solche Einsamkeiten im
Gemeinsamen aufzulösen, aber das muss dann auch wirklich schützen
und von Dauer sein.

In der Beschreibung des Stückes
wird die Maschinenhalle, in der das Theater stattfindet, als
„begehbarer Ausnahmezustand” angekündigt. Solch ein riesiges
industrielles Gebilde, das Brinkmann ja geradezu als
menschenverschlingend erschien, war im Ruhrgebiet der tägliche Ort
für die Routine der Arbeitswelt eines Großteils der Bevölkerung.
Fand diese Routine in einem täglichen „begehbaren Ausnahmezustand”
statt?

Dadurch, dass wir den Aufenthalt
unserer gemeinsamen Zeit als gelebte und nicht nur geprobte Zeit
versucht haben, stellte sich schon ein wiederholter Ablauf ein. Die
große Gruppe hat unsere Idee einfach fantastisch verstanden und
bewundernswert unprätentiös mitgemacht.

Wenn die Zuschauer, wie in eurem
Arrangement, hinter Glas auf die Bühne blicken, ist klar, dass das
häufige Ziel der Regie, die Zuschauer in das Geschehen mit
einzubeziehen, über Bord geworfen wurde. Warum habt ihr das Publikum
und die DarstellerInnen so von einander getrennt?

Weil wir durch die Musik und die
Brinkmann-Texte eine andere Kommentarebene wollten. Wie Stimmen im
Kopf, die nicht zur Realität passen. Wir wollten auch, dass sich die
Zuschauer ihr eigenes Bild bauen, und haben sie zwar durch die trüben
Scheiben entfernt, sie aber gleichzeitig durch Bewegungsfreiheit des
Begehbaren aufgefordert, auf die Suche zu gehen.

In einem Interview hast Du einmal
gesagt, dass Du dich freuen würdest, wenn auch ehemalige Arbeiter
und Arbeiterinnen sehen würden, wie sich die alten Hallen wieder mit
Leben füllen. Wie, meinst du, wirken Brinkmanns Texte an diesem Ort
auf Menschen, deren Identität hier wesentlich geprägt wurde?

Tatsächlich glaube ich, dass es hier
nicht um die Annäherung an die Raumgeschichte ging, sondern eher um
das Ernstnehmen von so einem Ort, ohne ihn mit einer schicken
Zweitbühnenkonstruktion zu versüßen. Wir wollten unseren „Zustand”
in einem realen, der Behauptung entsprechend „wahrscheinlichen”
Raum ausprobieren.

Nun ließe sich auch der Schluss
ziehen, dass am Beispiel der Umwandlung einer Maschinenhalle zum
Theater die spätkapitalistische Verwertungslogik aufs Beste
versinnbildlicht wird: Orte der Ausbeutung zum Zwecke der Produktion
sozial geschichtetem nationalem Wohlstandes werden nun, nachdem sich
das ökonomische Modell weiter entwickelt hat, für den kreativen
Lifestyle der Bessergestellten neu entdeckt. Der Eintrittspreis von
30 Euro ist auch nicht gerade an pensionierten, umgeschulten oder gar
arbeitslosen Ehemaligen der Maschinenhallen orientiert…

Der Preis ist zu hoch, obwohl
subventioniert. Ich finde das wirklich problematisch und meine, man
könnte ihn kleiner halten, und sei es auf Kosten der allgemeinen
Produktionsaufwände oder Werbung. Was ich allerdings richtig finde
ist, dass diese Hallen genutzt werden, sei es durch Versuche wie
unsere. Ich glaube, das gibt ihnen Selbstbewusstsein. Sonst würden
sie verschwinden.

Westwärts” ist erst kurz nach
Brinkmanns Tod veröffentlicht worden, und das zunächst auch nur
unvollständig. 33 Jahre später hast Du nun daran gearbeitet‚
„Westwärts” in Szene zu setzen – kannst Du als Resultat
erahnen, wie Brinkmann die heutige Gesellschaft wahrgenommen hätte?

Ich denke, ähnlich wie damals. Nur
noch ohnmächtiger. Schließlich fand er einen starken Ausdruck in
seiner Zeit, was heute bekanntermaßen immer schwieriger wird, weil
jeder radikaler Gestus längst Popcorn ist.

Brinkmann stand dem Kulturbetrieb
seiner Zeit feindlich gegenüber – kaum auszumalen, wie er auf die
heutige Massenkultur reagiert hätte. Lässt sich Brinkmann als
zeitgemäße Kulturkritik anwenden?

Ich finde: Absolut. Für mich war er
ein intuitiver Visionär. Niemand hat die „Schrecken des
Normalen“ so trefflich beschrieben wie er.

Vielen Dank für das Interview!

Per E-Mail geführt von Marcus
Munzlinger

 

Anmerkungen:

Schorsch Kamerun, mit
„bürgerlichem“ Namen Thomas Sehl, wurde 1963 in
Schleswig-Holstein geboren, und ist den meisten als Sänger seit
langer Zeit ein Begriff. Darüber hinaus ist er noch unter anderem
als Autor, Verfasser von Hörspielen, Clubbetreiber und bereits seit
einigen Jahren als Theaterregisseur tätig. Mit seinen
theaterhandwerklich und politisch aus dem Rahmen fallenden Stücken
wirbelt Schorsch Kamerun Staub auf jeder Bühne zwischen
Norddeutschland und der Schweiz auf, an der sich die Möglichkeit
dazu bietet. Viel beachtet etwa die Aufführungen von Macht fressen
Würde am Schauspielhaus Zürich, einer beißenden Abrechnung mit dem
modernen Rechtspopulismus in der Schweiz. Für die Aufführung von
Westwärts wurde die Maschinenhalle Zeche Zweckel in Gladbeck
gewählt.

Rolf Dieter Brinkmann, 1940 in
Vechta geboren und 1975 – vermutlich – bei einem Unfall in London
ums Leben gekommen, gilt als radikaler Erneuerer der deutschen Lyrik
und Literatur. Insbesondere der mit dem Petrarca-Preis ausgezeichnete
Gedichtband Westwärts 1&2 hat zu diesem Ruf beigetragen.
Brinkmann hatte sich der neuen USamerikanischen-Underground-Lyrik
zugewandt; dass dieser auf gewisse Weise der „Sprung über den
Atlantik“ nach Deutschland gelang, gehört zu Brinkmanns
herausragender Leistung für die Literaturgeschichte. Trotz seines
frühen Todes hinterließ er der Nachwelt einen reichhaltigen und
abwechslungsreichen Fundus an Texten zur Kunsttheorie, zu
Gesellschaftskritik und entsprechenden Gedichten, romanartigen
Schriften (ohne dass dabei ein „Roman“ im herkömmlichen Sinn zu
finden ist), aber auch Fotobänden, Collagen und vielem mehr. Als
Herausgeber von Acid. Neue Amerikanische Szene schaffte Brinkmann
zusammen mit Ralf-Rainer Rygulla zudem ein absolutes Standardwerk für
die modernen Kulturwissenschaften.

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