Berlin und das Ringen um die eigene Geschichte

"Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag- die Mainzer wird geräumt". Mit diesen Worten wurde einer der Erzählenden aus dem Film am 12. November 1990 geweckt (Quelle: http://www.goodmovies.de)

Was epochale Rückblicke
anbelangt, waren linke Bewegungen schon immer um Augenhöhe mit der
staatstragenden Geschichtsschreibung bemüht. Selbstverständlich
waren auch die Jahresfeiern zu „20 Jahre Mauerfall/20 Jahre
deutsche Einheit“ in den Jahren 2009 und 2010 Anlass für
vielfältige Gruppen und Strömungen, die Deutungshoheit der
Institutionen und Medien über das kollektive Gedächtnis in Frage zu
stellen. Die thematische Spannweite war enorm: Während etliche
K-Gruppen und deren Ableger mit Reichweite bis in die Partei „Die
Linke“ hinein in erster Linie um Rehabilitation der DDR bemüht
waren und trotzig bis störrisch tapfer weiter den Staatssozialismus
propagierten, waren die Jubiläen in autonomen Antifa-Kreisen oftmals
ein willkommener Anlass, sich die jeweiligen Lieblingstheorien zum
deutschen Nationalismus um die Ohren zu hauen. Wieder andere stellten
sich „Gegen das Ende der Geschichte“ und verquickten Mauerfall
und die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise zu manchmal etwas
gewagten Thesen und Handlungsvorschlägen zur Überwindung des
Kapitalismus. Strömungsübergreifend wurden vor allem die mit der
„Wende“ einhergehenden neonazistischen Gewalttaten gegen den
offiziellen Ideologiebetrieb der Einheitsfeiern in Stellung gebracht.

Selbstreferenzielle
Geschichtsschreibung

In Berlin,
Hauptschauplatz des Geschehens damals und heute, ließ es
sich auch etwas weniger staatstragend und theorielastig mit
der eigenen Geschichte auseinandersetzen – weil es tatsächlich
auch eine eigene kämpferische Praxis gab, auf die sich in diesem
konkreten Fall bezogen werden kann: die Rede ist von den
Häuserkämpfen in Ost-Berlin nach dem Mauerfall und in den frühen
90er Jahren. Der Mythos der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain
steht dabei symbolisch für eine Zeit, in der der Untergang eines
ganzen Staates kurzfristig Räume, Ideen und eine ungeahnte Energie
zur Realisierung sozialer Utopien freisetzte. Die Mainzer Straße
steht aber auch für die Unausweichlichkeit des Konflikts solcher
Prozesse mit den hegemonialen Strukturen der kapitalistischen
Wirklichkeit, sobald sie auch nur ansatzweise gesamtgesellschaftliche
Relevanz bekommen.

Diese Geschichten haben
zwei unterschiedliche Filmprojekte nun aufgegriffen: Zum einen
William Perfetti’s „20 Jahre Mauerfall – 20 Jahre Mainzer
Fall“, welches sich also vom Titel her schon als direktes
Gegenstück zur bundesrepublikanischen Selbstinszenierung versteht,
und zum anderen Katrin Rothe’s „Herzlichen Glückwunsch zum
Geburtstag – Die Mainzer Straße wird geräumt“. Beide Filme sind
Ende 2010 erschienen und entstammen sozusagen der Kiezeigenen
Erinnerungskultur linker und autonomer Zusammenhänge im Bezirk: Die
Erzählungen spinnen sich um die Schilderungen „Ehemaliger“
herum, die nach wie vor in der Gegend leben und sowohl einen starken
individuellen wie auch kollektiven Bezug zu den Ereignissen um 1990
aufweisen – ob nun mit DDR oder
BRDVergangenheit.

Die Geschichte hinter
der Geschichte

Trotz der Gemeinsamkeiten
in Thematik und Machart unterscheiden sich die beiden Dokumentarfilme
stark von einander. William Perfetti’s Film ist eindeutig
derjenige, dessen Fokus explizit ein umfassender
sein soll: Sich von den Fernsehberichten zum Treffen der
Staatsspitzen anlässlich der Jahresfeiern zum Mauerfall abwendend,
beginnt der Italiener, der selbst Anfang der 90er nach Berlin kam,
als Rahmenerzähler in den frühen 70er Jahren mit den Ursprüngen
des „Häuserkampfes“ um das Bethanien im West-Berliner Bezirk
Kreuzberg. Anders, so Perfetti, seien die Kämpfe in Ost-Berlin nach
dem Mauerfall, und insbesondere der Konflikt um die Mainzer Straße,
nicht zu verstehen. Das besetzte Bethanien befand sich in
unmittelbarer Nähe zur Staatsgrenze der BRD, vom Dach aus hatten die
BesetzerInnen einen untrüglichen Blick auf den militarisierten
„Realsozialismus“. Die auf dem Gebäude wehende schwarz-rote
Fahne symbolisierte eine jugendliche und proletarische
Eigenständigkeit gegen die Blockideologie des Ost-WestKonflikts.
Martin Reiter, ein Zeitzeuge des Films,
Aktivist und Künstler aus dem arthouse
Tacheles, beschreibt die bemerkenswerte Entwicklung dieser
Bewegung in den 80er Jahren, und wie sich West-Berlin durch sie
veränderte: Die Trutzburg des „westlichen Konzernkapitalismus
entgegen dem Staatskapitalismus des Ostens“ (Reiter) wurde zu einer
linken Insel in Mitteleuropa, in der die HausbesetzerInnen-Bewegung
zu einem gewichtigen Faktor aufstieg und Menschen aus vielen Ländern
faszinierte und anzog – diesseits und jenseits des „Eisernen
Vorhangs“. Wie der Österreicher Martin Reiter auf eben dieser
„Insel“ sein neues Zuhause fand, so tat dies auch Jan Georg
Fischer, ein in dem Film ebenfalls zu Wort kommender DDR-Dissident,
der nach zwei Inhaftierungen aufgrund seiner politischen Aktivitäten
und Überzeugungen nach West-Berlin ging, um sich dort der
HausbesetzerInnenSzene anzuschließen.
Szenen aus einer Reportage des öffentlich-rechtlichen Fernsehens
verdeutlichen noch mal den Konflikt mit den Interessen der
InvestorInnen, die mit Abriss der Kreuzberger Altbaustruktur und
Neubau teurer Eigentumswohnungen nicht bloß ein paar linke
Post-68er, sondern auch große Teile der Bevölkerung gegen sich
aufbrachten. Tatsächlich wurde in den oft eskalierenden Kämpfen der
80er Jahre durchgesetzt, dass Häuser, die aus bloßen
Spekulationsgründen leerstanden, im Falle einer Besetzung zumindest
vorerst nicht geräumt wurden.

Anstelle des „Ende
der Geschichte“ ein unverhoffter Neuanfang

Mit der Taktik aus
„Zuckerbrot und Peitsche“ – also punktuelle Legalisierung von
Besetzung einerseits, massive Polizeieinsätze andererseits, die auch
den Tod Klaus-Jürgen Rattays nach sich zogen
waren Neubesetzungen in West-Berlin Ende der 80er Jahre fast
unmöglich gemacht worden; die Szene befand sich vielmehr in einem
ständigen Abwehrkampf um die bestehenden Häuser. In Verhandlungen
wurden die BewohnerInnen und ihr Umfeld gegeneinander ausgespielt und
zu Konformismus gedrängt, bis sie dann oft trotzdem einer Räumung
wehrlos gegenüberstanden; diejenigen, die diesem Spiel eine radikale
Absage erteilten, bekamen die ganze Gewalt der Staatsorgane zu
spüren. Mit dem Mauerfall am 9. November 1989 änderte sich dann
urplötzlich die Situation: Ost-Berlin war in ein Machtvakuum
gefallen, welches fast ein Jahr, bis zur offiziellen Einverleibung
der DDR in die BRD am 3. Oktober 1990, die Möglichkeit zur
kollektiven Selbstorganisation jenseits staatlicher und – zumindest
was den Wohnraum anging – auch kapitalistischer Strukturen bot. Der
Konflikt um die vielen leerstehenden Häuser in Ost-Berlin war zudem
kein neuer und
wurde nicht aus dem Westen importiert: Vielmehr
hatte sich schon in der DDR eine Bewegung entwickelt, in der sich
Menschen gegen ein eingepferchtes Leben im sozialistischen
Einheitsplattenbau wandten und vor allem in Friedrichshain die alten,
oft vom Zerfall bedrohten Häuser in Besitz nahmen. Anders als im
Westen, wurde dies in Ost-Berlin meist
von den Behörden geduldet. Mit der sich nach dem Mauerfall
andeutenden Annektierung der DDR durch die BRD stand dieses
„Gewohnheitsrecht“ auf dem Spiel und somit trugen viele bisher
„stille“ BesetzerInnen ihr Anliegen um mietfreies und
selbstorganisiertes Wohnen offensiv auf die Straße. In einigen
Fällen vermengte sich dieses Anliegen sehr schnell mit den
politischen Standpunkten, die die Westberliner Szene in den 80er
Jahren entwickelt hatte: Es ging nicht bloß um ein besseres Wohnen,
sondern auch um die kollektive Organisation des eigenen Lebens, den
Aufbau autonomer, selbstverwalteter Strukturen, in denen die
Überwindung sämtlicher Herrschaftsverhältnisse zielgebend sein
sollte.

Wie individuell kann
große Geschichte erzählt werden?

An diesem Punkt verliert
William Perfettis Film allerdings ein
wenig die Spur. Der ideologiekritische Ansatz der Gegenüberstellung
der Einheitsfeiern 20 Jahre danach mit der Erinnerung an die
Häuserkämpfe in Ost-Berlin tritt mit fortschreitender Länge der
Dokumentation nicht mit klarer Schärfe hervor; die immer wieder
eingeschnittenen Fernsehberichte zu den Staatsfeierlichkeiten geraten
immer mehr aus dem Kontext, ohne dass Rahmenerzähler Perfetti, der
als „Stimme aus dem Off“ die Möglichkeit dazu hätte, hier
Abhilfe leistet. Auch die Erzählungen seiner Zeitzeugen geraten etwa
ab der Hälfte des Films eher zu Schilderungen der individuellen
Nischenfindung nach dem Ende des großen Neuanfangs, ohne dass sie
einen für die Zuschauenden Erkenntnis bringenden roten Faden
aufweisen. Über die Länge des Films betrachtet, erscheint der Titel
„20 Jahre Mauerfall – 20 Jahre Mainzer Fall“ sogar etwas
irreführend: Nicht so sehr der Konflikt um die Mainzer
S
traße steht im Vordergrund, vielmehr geht es um die
Entwicklung alternativer Wohn- und Kulturprojekte in West- und
Ost-Berlin im Laufe der Zeit. Bezeichnender Weise war keiner der
interviewten Zeitzeugen tatsächlich selber BewohnerIn der Mainzer
Straße, und jegliche Beteiligung an den Kämpfen war höchstens
indirekt. Der Film verliert sich so immer weiter in den
Lebensgeschichten einiger

Eines der Hausprojekte in Friedrichshain an der Kreutziger Straße, welches aus den Häuserkämpfen in Ost-Berlin hervorgegangen ist (Quelle: http://www.lichtblick-kino.org/Downloads/20_Jahre_Mainzer.zip)

Menschen, die es sich mit selbst
erzeugtem Öko-Strom und Nachhaltigkeitsprojekten, Medien und
Kultur ein wenig im Status Quo gemütlich gemacht haben. Der um
einiges kürzere Film „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag –
die Mainzer Straße wird geräumt“ beschränkt sich dagegen auf die
Erzählungen von Leuten, die die Geschehnisse um die Mainzer Straße
als Beteiligte erlebten, auf ihre Motivationen, Hintergründe und
Taten. Katrin Rothe kommentiert im Gegensatz zu William Perfetti den
Film nicht selbst, nur kleine „Zwischenüberschriften“, untermalt
mit Fotos und Musik, geben der Dokumentation eine Gliederung. Die
Erzählungen ihrer Interviewpartner lenkt sie auch nicht, wie es
Perfetti unverkennbar tut, auf deren politische Einschätzungen und
Überzeugungen, vielmehr kommen diese durch ihre Erinnerungen an die
Mainzer Straße selber und – das ist das Entscheidende – im
Kontext darauf zu sprechen. Dem Film tut dies sehr gut; während
Perfettis Film mit dem Anspruch, das
große Ganze im Blick halten zu müssen, so manche Unschärfe
beinhaltet (z.B. Martin Reiters Einschätzung, dass Widerstand gegen
das System kontraproduktiv sei, weil sich dieses ja doch von allein
erledige) sprechen die Interviewten bei Rothe über ganz konkrete
Sachverhalte. Zudem lässt Rothe auch Widersprüche zu, so dass die
Ausführungen der Erzählenden vielmehr als eine Diskussion
wahrgenommen werden. Bei Perfetti hingegen, so scheint es, soll
eigentlich eine Wahrheit vermittelt werden, nur leider hat sie der
Film nicht finden können.

Marcus Munzlinger

Die
Filmdaten

20
Jahre Mauerfall – 20 Jahre Mainzerfall. Mit Willy unterwegs in
Berlin“, Dokumentarfilm von und mit William Perfetti, 112 Minuten
in zwei Teilen. Kino-Premiere war am 18.12. mit William Peretti im
Kino Lichtblick in Berlin. Weitere Informationen bei www.lichtblick-kino.org

Herzlichen
Glückwunsch zum Geburtstag – die Mainzer Straße wird geräumt“,
Dokumentarfilm von Kathrin Rothe, 40 Minuten. Als DVD erhältlich bei
Good!Movies, www.goodmovies.de

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