Das härteste Gewerbe der Welt


Ich
tötete so viele Frauen, dass es mir schwer fällt, sie
auseinanderzuhalten … Meine Absicht war es, so viele Frauen wie
möglich zu töten, von denen ich dachte, sie seien Prostituierte …
Ich wählte Prostituierte als meine Opfer aus, weil sie sich einfach
verschleppen ließen, ohne dass jemand Notiz davon nahm.“

Gary
Rigdewood, der „Green River Killer“ von Seattle, im Mai 2003.


Im
November 2001 wurde der Serienmörder Gary Ridgewood in Reno
(Washington) verhaftet, als er eine Lastwagenfabrik verließ, in der
er über 30 Jahre lang unauffällig gearbeitet hatte. Während dieser
Zeit ermordete er nachweislich 48 Frauen (nach eigenen Angaben mehr),
von denen fast alle Prostituierte oder Treberinnen waren. Ihre
Leichen vergrub er in den umliegenden Forstgebieten von King County.
„Die meisten von ihnen tötete ich in meinem Haus nahe der Military
Road“, gestand Ridgewood später. „Ich ordnete die meisten der
Leichen in Gruppen an, die ich Cluster nenne. Ich mag es an den
Clustern vorbeizufahren und über die Frauen nachzudenken, die ich
dort platziert habe.“ Er prahlte damit, dass er insgesamt mehr als
90 Frauen zu Tode gewürgt und „Sex“ mit ihren toten Körpern
gehabt habe. Um u.a. an die toten Frauen zu erinnern, die der
grausame Green River Killer auf dem Gewissen hat, organisierte die
Gründerin des U.S. Sex Workers Outreach Project (SWOP), Dr. Annie
Sprinkle, erstmals am 17. Dezember 2003 den Internationalen Tag zur
Beendigung der Gewalt gegen SexarbeiterInnen.

Isolation
und Angst

Ich
wählte Prostituierte als Opfer aus, weil ich Prostituierte am
meisten hasse und ich sie nicht auch noch für Sex bezahlen wollte“,
erzählte Ridgewood den Reportern. Die Tatsache, dass all diese Morde
über 20 Jahre lang unbemerkt blieben, deutet an, dass Ridgewood
nicht der einzige ist, dem Schuld an diesen bösartigen Verbrechen
zukommt. Die Haltung des Staates und der Polizei gegenüber
SexarbeiterInnen und das hasserfüllte Stigma, das die Gesellschaft
ihnen im Großen und Ganzen auferlegt, trugen dazu bei, dass diese
Morde eine derart lange Zeit ungeahndet blieben. Bis heute
unterliegen SexarbeiterInnen dem größten Risiko, Gewalt angetan zu
bekommen oder ermordet zu werden.

Obgleich
Sexarbeit häufig das „älteste Gewerbe der Welt“ genannt wird,
konnten die ArbeiterInnen in diesem steinalten Erwerbszweig kaum von
der nachhaltigen Etablierung umfassender Gewerkschaftsstrukturen in
der Arbeitswelt profitieren. Trotz eines mittlerweile mehr als 40
Jahre währenden internationalen Aktivismus im Bereich der Sexarbeit,
sind die Ausmaße kollektiver Organisierung nach wie vor bescheiden.
Aufgrund der häufigen staatlichen Kriminalisierung ihrer Tätigkeit,
arbeiten die meisten SexarbeiterInnen auf der Welt unter
unregulierten und unsicheren Arbeitsbedingungen. Vor dem Hintergrund
einer gesellschaftlichen Stigmatisierung und eines ausbleibenden
gesetzlichen Schutzes vor Gewaltverbrechen, führen sie häufig ein
Leben in Isolation und Angst. Dabei durchdringt Prostitution große
Teile der Gesellschaft und ist so alt wie die Zivilisation selbst.
Sie ist eine Tatsache, die zum sexuellen Leben der Menschheit
dazugehört, und es gibt wenige Gründe zu glauben, dass sie jemals
verschwinden wird. ArbeiterInnen zu verfolgen, die sich in dieser
recht menschentypischen Situation befinden, ist deshalb eine Form der
sozialen Ungerechtigkeit, die vom Staat und religiösen Institutionen
unterfüttert wird und den betroffenen ArbeiterInnen eine unnötige
Gewalt aufbürdet.

In
der Tat ist es der Staat, der die Rahmenbedingungen für diese Gewalt
schafft. Zwar bringt der gegenwärtige Menschenrechtsdiskurs viele
herzergreifende Forderungen nach der Abschaffung von Menschenhandel
und Kindersklaverei hervor. Doch gerade diese – häufig
puritanische – Bewegung, die beabsichtigt, die Prostitution mittels
staatlicher Regulierung zu beseitigen, erzeugt in Wirklichkeit die
Bedingungen für weitere Malträtierungen. Eine stärkere
Kriminalisierung von Prostitution treibt SexarbeiterInnen weiter in
den Untergrund und schafft perfekte Verhältnisse für Banden und
deren Schattenwirtschaft, in der SexarbeiterInnen besonderen Gefahren
ausgesetzt sind. Sogenannte „sexpositive“ Feministinnen,
einschließlich der globalen AktivistInnen rund um den 17. Dezember,
fordern deshalb eine internationale Entkriminalisierung (1) von
Sexarbeit, die es SexarbeiterInnen ermöglicht, offen zu arbeiten.
Denn die Wahrung ihrer Rechte als Menschen und als ArbeiterInnen ist
der beste Weg, Missbrauch, Erkrankungen und Zwangsprostitution zu
vermeiden.

In
Bewegung

Heute
markiert der 17. Dezember einen wichtigen Tag für SexarbeiterInnen
in ihrem Organisierungsprozess auf der ganzen Welt, so in Kenia,
Australien, Neuseeland, Indien, Frankreich, England, Deutschland, den
Vereinigten Staaten und den Niederlanden. Es ist allerdings nicht die
erste Gelegenheit für internationale SexarbeiterInnen-Organisierung.
1985 und 1986 tagten in Amsterdam und Brüssel die zwei
Welthurenkongresse. Damals verabschiedete ein internationales Komitee
die Weltcharta für Prostituiertenrechte, in der die
„Entkriminalisierung aller Teilbereiche der Erwachsenprostitution,
die aus individueller Entscheidung begangen wird“, gefordert wurde.
Weiterhin forderte man die Sicherstellung „aller Menschen- und
Bürgerrechte, einschließlich der Rede-, Reise- und
Einwanderungsfreiheiten, des Rechts auf Heirat, auf Arbeitslosen- und
Krankenversicherungen und auf eine Unterkunft“, und schließlich
die Einhaltung von Arbeitsstandards wie die freie Wahl des
Arbeitsplatzes und des Wohnsitzes, die Abschaffung von spezieller
Prostitutionszonen und den Einbezug in das Steuersystem – mit dem
Recht auf entsprechende Sozialleistungen – „auf derselben
Grundlage wie bei anderen FreiberuflerInnen und
VertragsarbeiterInnen“.(2)

Die
Geschichte der SexarbeiterInnen-Bewegung kennt viele Meilensteine:
Von den ersten Bemühungen des Französischen
Prostituiertenkollektivs im Jahr 1975 als 150 Sexarbeiterinnen eine
Kirche in Lyon besetzen; die Proklamation des English Collective of
Prostitutes, „Armut und nicht Prostitution zu ächten“; die
Initiierung von COYOTE durch die US-Aktivistin Margot St. James im
Jahr 1973, die Gründungen von Hydra 1980 in Deutschland, von ASPASIE
1982 in Genf, von APC und CORP 1983 in Kanada bzw. Australien oder
von „De Rode Draad“ und „De Roze Draad“ 1984 in den
Niederlanden; die Ausdehnung der Bewegung in den 1990er Jahren auf
Transsexuelle, homosexuelle und migrantische ArbeiterInnen; die
Europäische Konferenz zu Sexarbeit, Menschenrechten, Arbeit und
Migration im Oktober 2005 in Brüssel, mit der ein neues
internationales Bewusstsein für das Problem geweckt wurde, dass dem
Menschenhandel häufig vermeintlich freiwillige Entscheidungen zur
Arbeitsmigration zugrunde liegen (3), und der Streik von 35.000
SexarbeiterInnen im Oktober 2007 in El Alto (Bolivien). Es scheint
heute, dass die Aufmerksamkeit für die SexarbeiterInnen-Bewegung in
den allgemeinen Medien und den internationalen
Menschenrechtsinstitutionen wieder wächst, nachdem sie in den
1980ern und frühen 90ern vielfach ignoriert wurde.

Die
Wurzeln des Problems

Laut
einer Studie aus dem August 2010 von ProCon, einer
nicht-profitorientierten Organisation zur Untersuchung kontroverser
sozialer Angelegenheiten, haben etwa die Hälfte von 100 untersuchten
Ländern die Prostitution legalisiert. Diese Länder machen 27% der
Weltbevölkerung aus. In der anderen Hälfte der untersuchten Staaten
(mit einem Anteil von über 70% der Weltbevölkerung) unterliegt
Prostitution entweder einer Kriminalisierung (50% der Länder und 60%
der Weltbevölkerung) oder einer eingeschränkten Legalität, bei der
z.B. Zuhälterei rechtlich geschützt ist, nicht aber die Sexarbeit
selbst (betrifft 10% der Länder und 13% der Weltbevölkerung).(4)
Diese Statistiken lassen vermuten, dass es in den letzten 40 Jahren
einen Trend zur partiellen oder vollen Legalisierung der Prostitution
gab.

Doch
trotz der scheinbaren Liberalisierung des Sex-Gewerbes durch
Legalisierungsmaßnahmen sind Komplikationen festzustellen, die neue
Probleme zur Folge haben. Dazu zu zählt vor allem eine weiterhin
restriktive und stigmatisierende Politik gegenüber legalisierten
SexarbeiterInnen, wie etwa die Festlegung bestimmter
Prostitutionszonen, hohe Steuern und Lizenzgebühren sowie übermäßig
häufige und degradierende Tests wegen eventueller
Geschlechtskrankheiten. In Ländern, in denen Prostitution
legalisiert wurde, gibt es häufig einen Anstieg der
Zwangsprostituierung von Sexarbeiterinnen aus ärmeren Ländern, die
als unterbezahlte Sexsklavinnen arbeiten, meist in einem illegalen
Sektor der trotz der Existenz eines legalen Prostitutionsmarkts
weiter besteht. Größeren Schaden erleiden SexarbeiterInnen auch
durch die soziale Stigmatisierung, sogar in Ländern, wo es angeblich
legal ist, eine Prostituierte zu sein. Die öffentliche Haltung aus
Ungnade und Hass gegenüber SexarbeiterInnen ist tief verwurzelt in
den patriarchalen und religiösen Werten, die nicht so einfach
verändert werden. Deshalb wird die Legalisierung allein nicht die
Probleme der menschlichen Missstände in der Sexindustrie lösen.
Vielmehr ist eine größere öffentliche Kampagne zur
Entstigmatisierung notwendig, zusammen mit einer allgemeinen
Entkriminalisierung anstelle einer staatlich kontrollierten
Legalisierung.

In
den meisten Ländern erfolgt die Organisierung von SexarbeiterInnen
außerhalb anerkannter Gewerkschaften, zumeist in Form von Netzwerken
der gegenseitigen Hilfe, die nicht die vollwertigen Rechte einer
Arbeiterinteressenvertretung besitzen. Dieses Defizit bietet aber
zugleich auch Potenziale für die anarchosyndikalistische Vision
kollektiver Organisierung. Es wäre zu begrüßen, wenn sich auch
ArbeiteraktivistInnen aus der Tradition der radikalen Linken
zunehmend an diesem Diskurs beteiligen würden.

Annabelle
X.
Übersetzung:
Holger Marcks


Die
Autorin ist Anarchafeministin und sowohl Mitglied der New Yorker
SWOP-Gruppe als auch aktiv bei der Sex Worker Action New York. Sie
ist Studentin und arbeitet nebenberuflich als Domina.


Anmerkungen

  1. Zu beachten ist, dass Entkriminalisierung und Legalisierung nicht das
    Gleiche sind. Während letztere staatliche Eingriffe in Form von
    Regulierung, Besteuerung, Lizenzvergaben etc. festlegt, bedeutet
    ersteres lediglich, dass der Staat keine Bestrafung von Sexarbeit als
    krimineller Tätigkeit vornimmt und die Rechte von SexarbeiterInnen
    vor gewalttätigen Übergriffen schützt wie bei jedem anderen Bürger
    auch.
  2. International Committee for Prostitutes’ Rights (ICPR), „World
    Charter for Prostitute Rights“; siehe
    www.walnet.org/csis/groups/icpr_charter.html
  3. Die Sexarbeit-Expertin Jo Doezema argumentiert, dass in den meisten
    Fällen von Sexhandel, in denen ArbeiterInnen von Hilfsorganisationen
    „befreit“ wurden, die ArbeiterInnen keine gezwungen SexsklavInnen
    waren, sich aber genötigt sehen, eigene Hilflosigkeit vorzugeben, um
    nicht kriminalisiert zu werden. Nach einer solchen „Befreiung“
    werden viele solcher ArbeiterInnen in ihre Herkunftsländer
    deportiert, nur um einige Monate später wieder ein Verhältnis der
    „Sexsklaverei“ einzugehen.
    Siehe
    Jo Doezema, „Forced to Choose. Beyond the Voluntary v. Forced
    Prostitution Dichotomy“, in: Kamala Kempadoo & Jo Doezema
    (Hg.),
    Global
    Sex Workers.
    Rights,
    Resistance, and Redefinition
    ,
    New York 1998.
  4. China und Indien, wo Prostitution illegal ist, sind für einen großen
    Prozentsatz der illegalisierten SexarbeiterInnen auf der Welt
    verantwortlich. Siehe
    www.prostitution.procon.org

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